Kapitel 18

Tommy, 31. Oktober 2008

 

Das Polizeipräsidium war seit 1921 in der McGrath Hall untergebracht. Der rote Koloss mit Steinbögen über massiven Eichentüren und umlaufenden Zinnen auf dem Dach konnte glatt als mittelalterliche Festung durchgehen.

Brand, der noch immer in der Verhandlung war, hatte aus dem Gericht eine Nachricht über die Straße geschickt und Tommy gebeten, sich um halb eins mit ihm vor dem Bezirksgebäude zu treffen, und der Mercedes hatte am Straßenrand gehalten und war so schnell wieder weitergefahren, dass es aussah wie eine Flucht. Brand schlängelte sich durch den Mittagsverkehr, als wäre er auf Koks. Tommy bekam einen Anruf vom FBI, und als er ihn beendete und wieder mit seinem Ersten Staatsanwalt sprechen konnte, waren sie schon durch das Sicherheitstor gefahren und parkten hinter dem Präsidium. »Warum sind wir hier?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte Brand. »Nicht genau. Aber an dem Tag, als Rusty anrief, um Barbaras Tod zu melden, hat die Polizei von Nearing sämtliche Packungen aus Barbaras Arzneischrank einfach in einen Plastikbeutel geworfen, anstatt gleich vor Ort Inventur zu machen. Also hab ich die Sachen am Mittwoch von Rory herschicken lassen, damit Dickerman sie mal unter die Lupe nimmt.«

»Okay, gute Idee «, sagte Tommy.

»Rorys Idee, um ehrlich zu sein.«

»Trotzdem eine gute Idee. Und was hat Dickerman rausgefunden?«

»Du stellst ganz schön schwere Fragen. Mo hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass er ein paar interessante Ergebnisse hat. Er würde nicht >interessant< sagen, wenn es nichts wäre, aber ich konnte nicht nachfragen, weil ich den ganzen Tag im Gericht war. Trotzdem, ich wollte nicht, dass er irgendwas schriftlich macht. Das würde in dreißig Sekunden die Runde machen.«

»Schon wieder eine gute Idee«, sagte Molto.

Brand erklärte, dass sie zum Präsidium kommen mussten, weil Mo letzte Woche eine Kniegelenkoperation hatte und kaum laufen konnte. Jim fand es besser, wenn Tommy dabei war, um alles fragen zu können, was er wissen wollte. Auch das war keine schlechte Idee.

Eine von Mos Assistentinnen erwartete sie im Erdgeschoss an einer Hintertür. Sie trug einen Hexenhut aus Krepp und eine schwarze Zottelperücke.

»Süßes oder Saures«, sagte sie.

»Sehr schön«, sagte Brand. »Das frag ich mich auch jeden Morgen.«

Gemeinsam gingen sie über düstere Flure und betraten Mo Dickermans Reich. Mo Dickerman, alias der Fingerabdruckgott, war mit zweiundsiebzig der älteste Mitarbeiter der Polizei von Kindle County und unangefochten auch der angesehenste. Er war der führende Fingerabdruckexperte im Mittleren Westen, Autor einiger maßgeblicher Veröffentlichungen über verschiedene Techniken und häufiger Redner in Polizeiakademien rund um den Globus. Jetzt, da die Forensik im Fernsehen groß in Mode war, konnte man kaum einen Sender einschalten, ohne Mo in irgendeiner Dokushow über Verbrechensbekämpfung zu sehen, wie er seine große, schwarz gerahmte Brille wieder höher auf die Nase schob. In einem Department, das wie die meisten Polizeibehörden ständig in Kontroversen und oftmals auch Skandale verstrickt war, blieb Mo das einsame Symbol uneingeschränkter Ehrbarkeit.

Außerdem war er oft eine Nervensäge. Der Spitzname Fingerabdruckgott war nicht nur bewundernd gemeint. Mo hielt seine eigenen Expertisen für gleichbedeutend mit der Heiligen Schrift und duldete noch nicht mal eine Unterbrechung. Machte jemand den Fehler, irgendeinen Einwurf zu wagen, so ließ Mo ihn zu Ende reden und fing dann einfach wieder von vorne an. Er war häufig ein schwieriger Zeuge, der sich weigerte, scheinbar offensichtliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Und er war extrem unbeliebt bei der Polizeiführung, weil er sein öffentliches Ansehen schamlos ausnutzte und immer wieder mit Kündigung drohte, sollte sein Labor im Erdgeschoss des Präsidiums nicht mit den neusten technischen Errungenschaften ausgestattet werden. Dabei wurde das Geld manchmal dringender für kugelsichere Westen oder die Bezahlung von Überstunden gebraucht.

Mo kam ihnen an Krücken entgegengehumpelt, um sie zu begrüßen.

»Na, fit für den Twistwettbewerb?«, fragte Brand.

Mo war ein kantiger New Yorker mit vollem Haar, in dem nur einige wenige graue Strähnen zu sehen waren. Jetzt beugte er beide Ellbogen und wippte ein paar Zentimeter nach rechts und links. Brand bedankte sich herzlich dafür, dass Mo ihre Anfrage so schnell bearbeitet hatte, und Dickerman ging Hackend vor ihnen her ins Labor, ein halbdunkler Irrgarten von gedrängt stehenden Schreibtischen und Kartonstapeln und einigen freien Arealen für Mos sündhaft teure Geräte.

Er blieb vor seinem derzeitigen Lieblingsspielzeug stehen, einem Gerät zur Vakuum-Metallisierung von Spurenträgern. Die Chefs hatten sich einige Jahre gegen die Anschaffung gesträubt, weil sie weder der Bezirksverwaltung noch der Öffentlichkeit erklären wollten, warum sie eine Maschine brauchten, die latente Fingerabdrücke buchstäblich in Gold verwandelte.

Zu Tommys Zeiten als kleiner Staatsanwalt waren Fingerabdrücke lediglich Muster von Schweißrückständen, die durch Ninhydrin oder andere Pülverchen sichtbar gemacht wurden. War der Abdruck getrocknet, konnte man meist einpacken. Doch seit den 1980er Jahren hatten Experten wie Mo Methoden entwickelt, um die Aminosäuren im Schweiß zu konservieren. Inzwischen war es manchmal sogar möglich, aus einem latenten Fingerabdruck DNS zu gewinnen.

Mos Gerät zur Vakuum-Metallisierung war eine etwa neunzig mal sechzig Zentimeter große Stahlkammer. Alles, was sie enthielt, kostete ein Vermögen - Molybdäntiegel zur Bedampfung; kombinierte Kreisel- und Diffusionspumpen, die in weniger als zwei Minuten ein Vakuum erzeugten; ein ultraschneller Polycold-Kryokühler, um den Feuchtigkeitsentzug zu beschleunigen; und ein Computer, der das Ganze steuerte.

Man legte einen Spurenträger in die Kammer und gab ein paar Milligramm Gold in die Molybdäntiegel. Nachdem die Pumpen ein Vakuum erzeugt hatten, wurden die Tiegel unter Hochstrom gesetzt, sodass das Gold verdampfte und von den Fingerabdruckrückständen aufgenommen wurde. Anschließend wurde Zink verdampft, das aus chemischen Gründen nur in den Tälern zwischen den Papillarleisten anhaftete. Die gestochen scharfen Fotos der so gewonnenen goldenen Fingerabdrücke versetzten Geschworene stets in ehrfurchtsvolles Staunen.

Da Mo nun mal Mo war, ließ er es sich nicht nehmen, den gesamten Vorgang erneut zu erklären, obwohl sowohl Tommy als auch Brand den Vortrag schon öfter gehört hatten. Tags zuvor hatte Mo das Plastikfläschchen mit den Phenelzintabletten, die Rusty in der Apotheke abgeholt hatte, in die Kammer gegeben. Er hatte vier klare Abdrücke gewonnen, einen am oberen Rand, drei ziemlich weit unten. Das braune Tablettenfläschchen, das jetzt mit Gold überzogen war, lag in einem versiegelten Plastikbeutel auf einem Tisch neben dem Gerät.

»Von wem stammen die?«, fragte Tommy.

Mo hob einen mahnenden Finger. Er würde die Frage dann beantworten, wenn er so weit war.

»Wir haben sie mit denen der Verstorbenen abgeglichen. Mit vorhersehbaren Problemen. Ich geige den Leuten in der Rechtsmedizin nun schon seit zwanzig Jahren die Meinung, aber die nehmen die Fingerabdrücke von Toten immer noch so, als würden sie den Boden wischen. Die rollen die Finger nicht ab, die ziehen sie.« Dickerman hielt die Fingerabdruckkarte hoch, die die Kriminaltechniker im Rahmen der Obduktion angelegt hatten. »Die Abdrücke von Mittelfinger und kleinem Finger der rechten Hand sind nicht mal ansatzweise identifizierbar.« Innerhalb der beiden Quadrate, auf die Mo zeigte, war bloß ein verwischter Tintenklecks zu sehen. Dickerman schüttelte in gelinder Verzweiflung sein längliches Haupt.

»Ich kann Ihnen jedenfalls kategorisch sagen, dass die vier Abdrücke auf dem Fläschchen, das ich untersuchen sollte, nicht zu acht von zehn Fingern von Mrs Sabich passen.«

»Aber sie könnten von Barbara stammen?«, fragte Brand.

»Der hier nicht«, sagte Mo und deutete auf den Abdruck unten am Fläschchen, der auf dem Foto am größten war, »weil der eindeutig von einem Daumen ist. Aber bis dahin konnte ich nicht sagen, ob einer der übrigen Abdrücke von Barbaras Mittelfinger oder vielleicht sogar dem kleinen Finger stammte.«

»Und jetzt?«, fragte Tommy. Brand trat hinter Dickerman und schlug die Augen gen Himmel. Ihm ging Mos Egotrip auf die Nerven.

»Also hab ich in einem nächsten Schritt versucht festzustellen, von wem die Abdrücke waren. Ich ging davon aus, dass ihr irgendwen im Sinn hattet, aber Jim und Rory wollten keine Namen nennen. Also haben wir die Abdrücke durchs AFIS laufen lassen«, sagte Mo. Er meinte ein Computersystem, in dem alle Fingerabdrücke, die während der letzten Jahrzehnte im Bezirk genommen wurden, gespeichert waren. Mo legte die Fingerabdruckkarten hin, die aus seinem eigenen Archiv herausgesucht worden waren. Auf einer waren die Abdrücke, die Rusty Sabich vor fünfunddreißig Jahren bei seinem Dienstantritt für den Bezirk abgenommen worden waren. Die anderen hatte man ihm abgenommen, als Sabich angeklagt wurde. »Alle vier Abdrücke auf dem Fläschchen stammen von ihm.« Mo berührte die Karten, als wäre jede einzelne ein Fetisch. »Ich hab Rusty immer gemocht«, fügte er hinzu, als wäre es ein Nachruf.

Jims Lächeln war dezent, beherrscht. Er hatte es immer gewusst. Das würde Tommy ihm jedes Mal zugestehen müssen, wenn sie in den kommenden Jahren über den Fall sprachen.

»Und woher wissen wir, dass Sabich das Fläschchen nicht einfach aus der Packung genommen hat, um seiner Frau zu helfen?«, fragte Tommy.

Die Frage beantwortete Brand. Er hatte die Unterlagen dabei, die Rory zwei Tage zuvor mit in Wallachs Gerichtssaal gebracht hatte.

»Die Quittung war für zehn Tabletten ausgestellt. Aber als die Cops die Flasche mitnahmen, waren nur noch sechs drin.« Er nahm den Plastikbeutel mit dem Fläschchen, der neben Mos kostbarer Apparatur lag, und zeigte Tom die sechs orangefarbenen Tabletten darin. »Also hat jemand vier rausgenommen«, sagte er, »und gerade haben wir gehört, dass nur die Abdrücke des Richters drauf sind.«

»Könnte sie das Fläschchen angefasst haben, ohne Abdrücke zu hinterlassen?«, fragte Molto.

Dickerman schmunzelte. »Sie kennen die Antwort, Tom. Klar. Aber die Vakuum-Metallisierung ist die präziseste Methode zum Auffinden von Fingerabdrücken, die es je gab. Und wenn ich Jim richtig verstehe, müsste sie das Fläschchen viermal angefasst haben, ohne Abdrücke zu hinterlassen. Wir sind dabei, auch andere Behältnisse aus dem Arzneischrank zu untersuchen. Bislang sind ihre Fingerabdrücke auf acht von den neun, die wir getestet haben. Auf dem neunten sind die Abdrücke verwischt.«

»Könnten sie von ihr sein?«

»Möglich. Es gibt einige Vergleichspunkte, aber anscheinend hat noch jemand anderes das Fläschchen berührt, was die DNS-Bestimmung schwierig macht, die Unterscheidung der Allele.«

»Ein Verteidiger könnte schwerlich behaupten«, sagte Brand, »dass sie das Phenelzin angerührt hat, wenn ihre Fingerabdrücke auf jedem anderen Fläschchen sind, nur nicht auf diesem.«

Dickerman begleitete Brand und Molto zurück zu demselben Hintereingang, durch den sie hereingekommen waren. Tommy hatte noch immer keine Lust, den Dutzenden von Polizisten zu begegnen, die in den oberen Etagen herumliefen und mit Sicherheit fragen würden, was denn der Oberstaatsanwalt hier unten zu suchen hatte. An der Tür bedankte Brand sich erneut bei Dickerman und besprach noch rasch die nächste Runde von Untersuchungen, während Tommy schon hinaus in den beißenden Wind trat und über das soeben Gehörte nachdachte. Der stahlgraue Himmel, der in den kommenden sechs Monaten in Kindle County vorherrschen würde, als hätte sich ein gusseiserner Deckel über die Tri-Cities gelegt, sank tiefer.

Er hatte es wieder getan. Dieser Satz, dieser Gedanke zog sich durch Tommy wie eine gedämpft angeschlagene Klaviernote. Rusty hatte es wieder getan. Der Mistkerl hatte es wieder getan. Von wegen »Gebranntes Kind«. Während Tommy dastand, stürmten so viele Gefühle auf ihn ein, dass er sie kaum ordnen konnte. Er war wütend, klar. Tommy hatte schon immer schnell Wut empfunden, wenngleich mit zunehmendem Alter immer weniger. Und doch war sie ihm vertraut, ja sogar unerlässlich, so wie ein Feuerwehrmann sich am natürlichsten fühlte, wenn er in ein brennendes Haus eindrang. Aber auch der Gedanke an späte Bestätigung drängte sich auf. Er hatte gewartet. Und Rusty hatte sein wahres Gesicht gezeigt. Wenn das alles vor Gericht bewiesen wurde, was würden die Leute dann zu Tommy sagen, die Leute, die jahrzehntelang auf ihn herabgeblickt hatten, als wäre er ein wild gewordener Gesetzeshüter, der allzu leicht davongekommen war, so wie brutale Cops oft ungeschoren davonkamen?

Aber während Tommy in der Kälte stand und mit den Füßen stampfte, kam ihm zwischen all diesen vorhersehbaren Reaktionen eine ganz eigenartige Erkenntnis. Wenn er nicht mit Dominga hätte zusammen sein können, was hätte er dann getan? Hätte er gemordet? Es gab nichts im Leben, was Menschen sich sehnsüchtiger wünschten als Liebe. Der Wind wurde heftiger und schnitt durch Tommy hindurch mit der eisigen Geradlinigkeit eines Messerstichs. Aber er verstand: Rusty musste diese junge Frau geliebt haben.

 

Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008

 

Der letzte Beweis
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